21.08.2023

Ausländische Arbeitnehmer in der Prekariatsfalle

Arbeitgeber in Deutschland umgehen offenbar gerade in Branchen, in denen Menschen aus armen Ländern außerhalb der EU häufig arbeiten, geltendes Recht – teilweise mit System. Die Fachkräfteoffensive der Ampel-Regierung könnte die Missstände sogar noch verschärfen.

Sie harren aus: Die usbekischen und georgischen Lkw-Fahrer auf der A-5-Raststätte Gräfenhausen bei Darmstadt warten seit Monaten auf Zahlungen, die ihnen der polnische Spediteur Lukas Mazur schulden soll. Der Protest wirft ein Schlaglicht auf die schlechten Arbeitsbedingungen der Trucker aus Staaten außerhalb der EU, ohne die der europäische Warenverkehr zusammenbrechen würde. Gleichzeitig fehlen in Deutschland schätzungsweise 70.000 Lkw-Fahrer.

Bislang erschwerten Vorgaben zur Qualifizierung dieser sogenannten Drittstaatler und Sprachbarrieren ihren Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Das gerade beschlossene Fachkräfteeinwanderungsgesetz soll Abhilfe schaffen – nicht nur in der Logistikbranche. Ganz grundsätzlich soll es, wenn es zusammen mit einem Bündel weiterer Maßnahmen ab November schrittweise in Kraft tritt, viel mehr hochbezahlte Fachkräfte wie auch einfache Arbeiter aus Drittstaaten in deutsche Beschäftigungsverhältnisse bringen.

Laut make-it-in-germany.com, einer Plattform des Bundeswirtschaftsministeriums, soll dann die formale Anerkennung eines ausländischen Berufsabschlusses häufig nicht mehr nötig sein. Ausgebildete Pflegehilfskräfte aus Drittstaaten sollen Arbeitsmarktzugang erhalten. Und für Lkw-Fahrer aus Drittstaaten sollen Voraussetzungen für Sprachkenntnisse sowie die Prüfung von Fahrerlaubnissen und anderen Grundqualifikationen entfallen. Parallel arbeitet Joachim Stamp (FDP), Beauftragter der Bundesregierung für Migrationsabkommen, an bilateralen Verträgen mit Staaten wie Georgien und Usbekistan, um Arbeitsmigration von dort zu erleichtern.

„Gerade auch für Lkw-Fahrer“, so ein Sprecher des Bundesinnenministeriums, bei dem Stamp angesiedelt ist, „können daher künftige Migrationspartnerschaften neben anderen Maßnahmen ein Baustein sein, um dem Fachkräftemangel gemeinsam mit den Unternehmen der Logistikbranche aktiv entgegenzuwirken“.

Bedeuten die neuen Einwanderungsgesetze und in Aussicht stehende Migrationsabkommen also bald das Ende der ungebührlichen Ausbeutungsverhältnisse, unter denen Fachkräfte wie die Mazur-Fahrer leiden? Können sie, können andere schlecht entlohnte Arbeiter bald zu deutlich besseren Bedingungen in den deutschen Arbeitsmarkt einsteigen?

Eine Studie des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) von vergangenem Juni stellt fest: Besonders in jenen Berufsfelden, in denen Drittstaatler aus armen Ländern häufig arbeiten – Baubranche, Pflegebetreuung zu Hause, Fleischindustrie und Saisonarbeit –, umgingen Arbeitgeber „geltendes Recht und Schutzbestimmungen für Arbeitskräfte zum Teil systematisch“.

Die Studie beschreibt die aktuelle Lage der Beschäftigten zum Beispiel in der häuslichen Pflege wie folgt: „Überschrittene Arbeitszeiten, unbezahlte Bereitschaftszeiten, soziale Isolation, mangelnde Privatsphäre, unangemessene Unterbringung, Überlastung und bisweilen auch Gewalt gegen die Betreuungskräfte.“ Fazit der Studienautoren: „Die Beschäftigung im Niedriglohnbereich ist für ausländische Arbeitskräfte oftmals eher eine Prekaritätsfalle als ein Sprungbrett.“

Die neuen Arbeitsmigrationsgesetze für EU-Ausländer und Drittstaatler aus Nicht-EU-Staaten also: Einladung zur Einwanderung in die Prekarität?

DGB sieht mehr Einfallstore für Ausbeutung

Nein, sagt das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln: Hinsichtlich des Fachkräftemangels erscheine „es wenig wahrscheinlich, dass Zuwanderer in nennenswertem Umfang in prekäre Beschäftigungsverhältnisse einmünden, da sie sich in einer starken Verhandlungsposition befinden“, sagt IW-Arbeitsmarktexperte Holger Schäfer.

Auch das Bundesinnenministerium sieht keine Gefahr: „Die Arbeitsbedingungen werden anhand orts- und branchenüblicher Standards geprüft und müssen denen von Inländern entsprechen. Dies gilt auch für die Neuregelungen, die mit dem Gesetz und der Verordnung zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung in Kraft treten werden“, sagte ein Ministeriumssprecher. Zum Schutz der Arbeitnehmer werde „es außerdem die Möglichkeit geben, dass Arbeitgeber, die in schwerwiegender Weise gegen ihre Verpflichtungen verstoßen haben, für bis zu fünf Jahre von der Zustimmung für die Beschäftigung einer Ausländerin oder eines Ausländers ausgeschlossen werden“.

Und der Beauftragte für Migrationsabkommen Stamp betont: „In Gesprächen mit Drittstaaten habe ich erfahren, dass es dort auch ein nachhaltiges Interesse gibt, Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die im Ausland teilweise prekär beschäftigt sind, alternative Wege legaler und sicherer Migration in den deutschen Arbeitsmarkt zu ermöglichen.“

Michael Wahl von „Faire Mobilität“, einem Beratungsverbund des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) für ausländische Arbeiter, sieht die Pläne der Bundesregierung dagegen skeptisch: „Ein deutscher Arbeitsvertrag ist noch kein Garant für gute Arbeitsqualität.“ Man könne ja jetzt schon beobachten, „wie Menschen aus der EU mit deutschen Verträgen ausgebeutet werden“. Das bedeute: „Arbeitsverträge für acht Stunden Mindestlohn pro Tag, aber ihrem Arbeitgeber müssen sie 13 bis 15 Stunden pro Tag zur Verfügung stehen.“

In der Beratungspraxis schilderten Arbeitnehmer unterschiedliche Möglichkeiten, wie deutsche Arbeitgeber Recht brechen. Etwa: „Wir sehen, dass Menschen aus EU-Staaten als Lkw-Fahrer häufig dazu gedrängt werden, Arbeitszeiten falsch zu erfassen und umsonst Überstunden zu machen.“

DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel sagt, die Bundesregierung habe mit ihrer Initiative letztlich mehr Einfallstore für Ausbeutung geschaffen, etwa mit Blick auf die Ausweitung der sogenannten Westbalkanregelung. Diese sollte zeitlich begrenzt etwa Serben und Albanern Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt verschaffen und ist nun entfristet worden. Die Regelung, sagt Piel, vergrößere den „Markt für ungesicherte und schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse“.

Der Referatsleiter Arbeitsmarktpolitik bei der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, Andre Reinholz, monierte zudem weiterhin fehlende Regelungen für Personaldienstleister, die die Arbeit von EU-Bürgern und Drittstaatlern oft organisieren; Piel spricht mit Blick auf diese Dienstleister von „zwielichtigen und rechtsmissbräuchlichen Geschäftspraktiken“.

Einig sind sich die Gewerkschafter Piel, Reinholz und Michael Wahl von „Faire Mobilität“ über nötige Gegenmaßnahmen: viel schärfere Kontrollen, Ausweitung der Tarifbindung und: „Forderungen müssen für das unterste Glied in der Subunternehmerkette durchsetzbar sein“, wie Wahl sagt. Vorbild könnte ihm zufolge die sogenannte Generalunternehmerhaftung im Mindestlohngesetz sein, nach der Unternehmer selbst bei Subsubauftragnehmern für die Auszahlung haften.

Und was wird aus Lkw-Fahrern wie denen an der A 5? Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) bei der Bundesagentur für Arbeit bezweifelt grundsätzlich, dass die künftigen Regelungen ihre Situation grundlegend verbessern.

„Egal, wie wir die Fachkräfteeinwanderung stricken“, sagte Brücker: „Wenn es möglich ist, dass Firmen Dienstleistungen aus einem anderen EU-Staaten zu günstigeren Konditionen anbieten, werden Firmen in Deutschland auch weiterhin darauf zugreifen.“ Drittstaatler in der Logistikbranche arbeiten in Deutschland in der Regel als Arbeitnehmer von Unternehmen in östlichen EU-Staaten. Verbesserung versprechen könnten sich vor allem jene, die aufgrund ihrer Tätigkeit unmittelbar vor Ort in Deutschland eingestellt werden müssen, etwa in der Gastronomie oder der häuslichen Pflege. „Wegen des demografischen Wandels werden das immer mehr werden.“


Quelle: welt.de